Blick zurück in die Zukunft der Arbeitswissenschaft


Die Arbeitswissenschaft verdankt ihre Entstehung weniger systematischen Überlegungen oder herausragenden Entdeckungen als vielmehr konkreten Problemstellungen und -lösungen der Praxis. Im Zusammenhang mit dem Eintritt in die intensive Phase der Industrialisierung traten von den USA ausgehend Bestrebungen zur Rationalisierung des Arbeitsvollzugs in den Vordergrund. Hierbei standen die wirtschaftliche Nutzung des Arbeitsvermögens und die diesem Ziel dienende Organisation des Arbeitsvollzugs im Mittelpunkt und damit ein recht eingeschränktes Verständnis von Arbeit als marktwirtschaftlich verwertbarer und quantitativ messbarer Leistungsvollzug. Übersehen wurde, dass sich Arbeit nicht allein von der Beziehung Leistung - Lohn in einem Mensch-Maschine-System her verstehen lässt. Am deutlichsten wurde dies bei der Beobachtung von Motivationsproblemen, z.B. in der Form von Leistungszurückhaltung bei Akkordarbeit in einem rationalisierten, aber als "entfremdet" erfahrenen Arbeitsvollzug. Aber auch dessen negative Folgewirkungen, z.B. vorzeitige Aufbrauchserscheinungen, gaben Anlass zu intensiverer Erforschung der Arbeitswelt, z.B. in den Pionierstudien des britischen National Health Board. Neben die ingenieurwissenschaftliche Sichtweise traten medizinische und vorerst noch rein naturwissenschaftlich verstandene psychologische Perspektiven.

Die Gründungsphase

Aus einer vertieften Wahrnehmung der Arbeitswirklichkeit und der Konfrontation der gewonnenen Erfahrungen mit noch tragfähigen Kulturideen des Neuhumanismus, des Sozialismus und der christlichen  Soziallehren entstand ein umfassenderes Problembewusstsein. Wissenschaftliche Forschung sollte in Auseinandersetzung mit dem Taylorismus nicht nur als psychotechnischer Behelf, sondern zur Erkenntnis auch der Zusammenhänge beitragen, die menschliche Arbeitsleistung konstituieren. Gleichzeitig sollten die Forschungsergebnisse auch Wege zur sogenannten Bestgestaltung der Arbeitsbedingungen aufzeigen, eine Sichtweise, die später noch in Nadels "ideals concept" zur Gestaltung von Arbeitssystemen fortwirkte. Die Forschungsstrategien zur Erreichung dieses Ziels waren zunächst einzelwissenschaftlich orientiert. Ihre Addition führte zu einer "Technologie der menschlichen Arbeit", wie sie Otto Lipmann (1926, 17) als Inhalt der Arbeitswissenschaft proklamierte.

Aber das Ungenügen bei der Umsetzung derartiger Erkenntnisse bewegte andere wegweisende Vertreter der Arbeitswissenschaft zu Versuchen, in einer "Philosophie der Arbeit" einen integrierenden Überbau zu schaffen und damit Anschluss an das kulturelle Selbstverständnis der Epoche zu finden. Beispielhaft tat dies Fritz Giese gegen Ende der Weimarer Zeit mit seiner Bindung der Arbeit an "berufsbedingte Kulturziele" (1932, 24). Noch weiter gingen jene, die Arbeitsforschung zur Schaffung eines politischen Veränderungspotentials betrieben und sie damit wieder unter den Primat partikulärer Anwendungsinteressen stellten.

Dieser kurze historische Rückblick legt die Erkenntnis nahe, dass sich Arbeitswissenschaft in einem permanenten Spannungsfeld entwickelt. Der Methodenpluralismus natur-, sozial- und geisteswissenschaftlicher Orientierungen spiegelt gleichzeitig die unterschiedliche Anbindung an spezifische Verwertungs- bzw. Gestaltungsinteressen wider:

  1. eine auf experimentell gesicherten Erkenntnissen beruhende Optimierung von Belastungen und Beanspruchungen im Arbeitsvollzug zur Erhaltung des psychophysischen Arbeitspotentials;


  1. eine auf empirisch ermittelten Präferenzen gegründete soziotechnische Verhaltenssteuerung des arbeitenden Menschen zurOptimierung seiner Leistungsbereitschaft;


  1. eine auf die Schaffung kritischen Bewusstseins gerichtete Analyse von Norm- und Wertorientierungen zum Zweck der Begründung von Anforderungen und Ansprüchen im Widerstreit arbeitsbezogener Interessen.


Es hat sich gezeigt, dass es keinen methodologisch begründeten Rückzug aus diesem sich in unterschiedlichen Erkenntnis-, Vermittlungs- und Anwendungsinteressen manifestierenden Spannungsfeld geben kann. Mit anderen Worten: Arbeitswissenschaft bedarf stets auch der selbstkritischen Reflexion ihrer Voraussetzungen und Folgewirkungen, wie dies allgemein für jede wissenschaftliche Tätigkeit in einer Zeit gilt, in der Wissen nicht nur Erkenntnis, sondern auch lebensweltliche Strukturen schafft, denen die Betroffenen kaum entrinnen können. 

Die Entwicklung der Arbeitswissenschaft wurde durch jeweils unterschiedliche Betonung dieser Grundpositionen geprägt. Dies zeigte sich konkret im Selbstverständnis der Forscher und in dem von ihnen vertretenen Arbeits- und Wissenschaftsbegriff. Die Herausbildung und Entwicklung von speziellen Disziplinen mit eigener Forschungslogik und eigenen Vermittlungs- und Anwendungsinteressen bot einen gewissen Schutz gegen eine unkontrollierte Inanspruchnahme seitens fachfremder Interessenten. Als Ergebnis zeigt sich ein breites Spektrum arbeitswissenschaftlicher Aktivitäten, das in seiner Gesamtheit eher locker institutionalisiert ist. Gerade dieser Pluralismus der Ansätze ist aber auch der Vielschichtigkeit der Arbeitswirklichkeit und der Komplexität des Arbeitsbegriffs angemessen. Problematisch wird er erst, wenn versucht wird, die Hegemonie einer arbeitswissenschaftlichen Teildisziplin zu errichten oder zugunsten eines speziellen Paradigmas die Vielfalt der Forschungsinteressen einzugrenzen. Bemerkenswerterweise sind derartige Versuche bisher erfolglos geblieben. Statt dessen ist die Integration  arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse, gerade auch zum Zweck ihrer situations- und problemspezifischen Anwendung, ein Dauerthema, das spezifische Fachlichkeit immer wieder in einen erweiterten Entdeckungs- und Begründungszusammenhang stellt.

 

Die Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg

Betrachten wir die wesentlichen Etappen arbeitswissenschaftlichen Problembewusstseins seit dem Zweiten Weltkrieg etwas näher. Die Nachkriegszeit stand unter der Polarität einerseits von Arbeit und Leistung, andererseits von Mensch und Arbeit. Der Schwerpunkt lag auf der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit zur Bedarfsdeckung: Zentrales Anliegen war die Produktivitätssteigerung ohne vorzeitigen Aufbrauch der Arbeitskraft. Es war die grosse Zeit der Belastungs- und Beanspruchungsforschung, vorwiegend im schwerindustriellen Bereich.

Die zweite Phase setzte mit Erreichen der Vollbeschäftigung und der Herausbildung gehobener Anspruchsniveaus  bei den arbeitenden Menschen im Sinne der Maslowschen Bedürfnispyramide ein. "Menschengerechte Arbeitsgetaltung" wurde nun umfassender als "Humanisierungsaufgabe" interpretiert. Zu den Kriterien der Machbarkeit und Erträglichkeit trat das insbesondere von W.Rohmert immer wieder hervorgehobene Erfordernis der Zumutbarkeit der Arbeit. Gegenüber den Verwertungs- und Erhaltungsinteressen des arbeitenden Menschen traten seine Gestaltungsinteressen bezüglich der Arbeitsform und des Arbeitsinhalts in den Vordergrund. In dem Maße, in dem erkannt wurde, dass es sich hierbei nicht nur um individuelle Erwartungen, sondern auch um Sozialnormen handelt, die in Verhandlungsprozessen konstituiert werden, wuchs die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Begleitforschung. Sie kam vor allem in den HdA-Projekten zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zum Tragen, die aus der Perspektive der Grundinteressen des arbeitenden Menschen geplant waren. Die eher plakative Forderung einer "Humanisierung" des Arbeitslebens benötigte zu ihrer Umsetzung eine anwendungsorientierte, d.h. auch Sozial- und Organisationsstrukturen berücksichtigende Arbeitswissenschaft. 

In dieser Zeit erreichte die Arbeitswissenschaft erstmals eine gesellschaftspolitische Schlüsselfunktion als Stütze für die Konsensfindung im Prozess des Aushandelns der Arbeitsbedingungen. Indikator hierfür waren die Aufnahme der §§ 90 und 91 in das BVG und die sich hieran anschließende Diskussion. Die Arbeitswissenschaft fand über die speziellen Ansätze hinaus einen gemeinsamen Grundkonsens in einem "Förderungsauftrag", der auf die Chancen zur zumindest teilweisen Selbstverwirklichung des Menschen im Arbeitsprozess auf der Basis einer Anerkennung seiner Bedürfnisse und Interessen gerichtet war.

Das seither gewandelte Selbstverständnis der Arbeitswissenschaft lässt sich anhand folgender Dimensionen demonstrieren:

  1. erstens die veränderte Stellung des Menschen vom Arbeitsobjekt, vom Vollzugsinstrument vorab geplanter Abläufe, zum Arbeits-subjekt mit einem selbst zu verantwortenden Handlungsspielraum im Rahmen eines Leitbildes der "partizipativen Rationalisierung";


  1. zweitens die Erweiterung der Perspektive vom isolierten Arbeitsplatzdenken zur Betrachtung von Arbeitsprozessen, die Inter-aktionen innerhalb eines komplexen Arbeitssystems berücksichtigen und damit auch zu einer wesentlichen Erweiterung des Gestaltungsrahmens beitragen (Beispiel: die ergonomische Gestaltung der Arbeitsmittel an ihrem Entstehungsort);


  1. drittens der Übergang von der isolierenden zur ganzheitlichen Betrachtung der Arbeitswirklichkeit, der auch zur Kenntnisnahme der über den reinen Arbeitsvollzug hinausgehenden Wechselwirkungen zwischen dem Arbeitsfeld und der gesamten Lebenswirklich-keit des arbeitenden Menschen führt. Auf dieser Grundlage haben sich erst die Probleme der Schicht- und Teilzeitarbeit, vor allem aus der Perspektive der Frauen, in ihrem ganzen Umfang erschlossen;


  1. viertens die Begründung arbeitswissenschaftlicher Forschungslogik nicht allein aus dem Geiste instrumenteller Rationalität, die Arbeitsmittel für freibleibende Zwecke bereitstellt, sondern zunehmend auch durch reflexive Rationalität, die den sozialkulturellen Wirkungs- und Bedeutungszusammenhang arbeitswissenschaftlicher Aktivitäten thematisiert.


Neue Herausforderungen

Seit den 80er Jahren wurden mit zunehmendem Gewicht fundamentale Strukturwandlungen der Arbeitswelt, darüber hinaus aber auch der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar. Die sogenannte "Krise der Arbeitsgesellschaft", die in unserem Kulturzusammenhang eigentlich eine Krise der Berufsgesellschaft ist (vgl. Fürstenberg 2000), hat seither auch das Problembewusstsein der Arbeitswissenschaft nachhaltig herausgefordert.

Vergegenwärtigen wir uns die Haupttrends, soweit sie für die Arbeitswissenschaft neue Problemlagen schaffen:

  1. Der Einsatz neuer Technologien, insbesondere der Mikroelektronik, ermöglicht die Automatisierung von  Routinefunktionen. Insbesondere im Informations- und Steuerungsbereich verschiebt sich die Grenze zwischen Menschen- und Machinentätigkeit, und neue Interaktionsstrukturen entstehen. Die Schaffung komplex vernetzter Arbeitssysteme begünstigt eine auf das Endergebnis bezogene Prozessorientierung, die auch die Zurechnung von Leistungsbeiträgen in einer nun deutlicher werdenden Wertschöpfungskette verändert.


  1. Neue Technologien ermöglichen auch eine rasche marktorientierte Reaktion auf Kundenanforderungen und zugleich   eine qualitätsorientierte Restrukturierung der bisherigen Massenproduktion. Es kommt neben informatorischen Vernetzungen zu funktionalen Aussonderungen in Richtung teilautonomer Leistungseinheiten, aber auch zu raum-zeitlichen Entflechtungen im Arbeitsprozess, z.B. von Arbeits- und Betriebszeit und von Arbeits- und Betriebsort. Virtuelle Unternehmen werden möglich. Eine Folge derartiger Flexibilisierungspotentiale und -strategien ist die znehmende Differenzierung des "Normalarbeitsverhältnisses".


  1. Die neuen Rahmenbedingungen schaffen im Zusammenhang mit gewandelten Arbeitsstrukturen auch neue Arbeitsanforderungen und führen zu Umschichtung und Neubildung von Qualifikationen, wodurch herkömmliche Facharbeit in Frage gestellt wird. Zunehmend abstrakter werdende Formen indirekter, durch komplexe Aggregate vermittelter Arbeit bewirken eine Verschiebung von physischer zu psychischer und intellektueller Beanspruchung, einhergehend mit dem Erfordernis bestimmter Grundhaltungen wie Verlässlichkeit, Verantwortungsbereitschaft usw. Insgesamt wird das Leistungspotential der Arbeitnehmerschaft intensiver genutzt. Rasche Veränderungen bewirken außerdem fortdauernde Lernzwänge zur Aufrechterhaltung und Erweiterung von Handlungskompetenz.


  1. Wesentlichen Anstoss für diesen Anpassungsdruck geben umfassende Wirtschaftsverflechtungen, die insbesondere auf Unternehmens- und Branchenebene, aber auch in den Wirtschaftsverbänden, zu erheblichen Strukturwandlungen führen. Es entstehen multinationale, ja sogar ansatzweise globale Verbundsysteme mit Netzwerkstrukturen. Zusätzlich zu den herkömmlichen Formen der Arbeitszerlegung, Berufsbildung und Produktionsteilung entsteht eine länderübergreifende horizontale Trennung in dominante Kernbereiche der Wirtschaftstätigkeit und hiervon abhängige periphere Bereiche, die unter permanentem Kostendruck stehen, weil sie zunehmend austauschbar werden. Dies hat Konsequenzen für die Art und Bewertung der hier geleisteten Arbeit und für die Beschäftigungssicherung.


  1. Dem steht ein durch höhere Bildungsabschlüsse und allgemeinen Wertewandel gesteigertes Anspruchsniveau gegenüber.  Wo   hohe   Motivation im Sinne gesteigerter Leistungsbereitschaft gefordert wird, gewinnt dementsprechend der personale und soziale Faktor gegenüber rein funktionalen technischen und wirtschaftlichen Überlegungen an Gewicht. Neben das Effizienz- und Rentabilitätskriterium tritt das Akzeptanzkriterium. Privilegiert sind hierbei allerdings diejenigen, die Rationalisierungswissen schaffen und produktivitätssteigernd anwenden, wie gegenwärtig die IT-Spezialisten.


  1. Nicht vergessen werden dürfen auch die umfassenden und irreversiblen demographischen Veränderungen: die Zunahme der         Frauenerwerbsquote und damit das Problem der Doppelbelastung der berufstätigen Mütter, sowie der Alterungsprozess der Bevölkerung, der durch "soziales" Altern, etwa durch Frühverrentung, noch gesteigert wird, der andererseits aber auch die dringlicher werdende Frage nach der sinnvollen Nutzung der Arbeitskraft in den verschiedenen Lebensphasen aufwirft.


 

So ist ein Idealtyp des arbeitenden Menschen gefordert, der sich flexibel und kooperativ in einen Leistungsvollzug einordnet, der als Teil einer Wertschöpfungskette nachfragegesteuert ist. Im Wechselspiel von Produkt- und Prozessinnovationen ist permanente Selbstqualifikation ebenso erforderlich wie die Initiative bei der Ausschöpfung von Arbeitsmarktchancen. Unter diesen Voraussetzungen sollen hohes Leistungsniveau und hohes Leistungsentgelt miteinander korrespondieren, was auf einen wachsenden Anteil von Ertragskomponenten am Arbeitsentgelt verweist. Natürlich entsteht sofort die Frage, inwieweit dieser Idealtyp Verwirklichungschancen hat und in welchem Maße er Grundlage arbeitswissenschaftlicher Überlegungen sein kann. Dies führt zu der Zusatzfrage, wie denn die Arbeitsbedingungen jener beschaffen sein sollen, die dem Idealtyp nicht entsprechen wollen oder können. Diese einfachen Überlegungen zeigen schon, dass die Arbeitswissenschaft wieder einmal mit dem Problem der Wert- und Zielorientierung ihrer Aktivitäten konfrontiert wird.  

Die Problemlage ist aber noch komplexer. Nicht nur der Begriff der Arbeitsleistung gewinnt neue Dimensionen, sondern auch der Begriff der Arbeit generell. Die einschränkende Auffassung von Arbeit als Erwerbstätigkeit ist angesichts der einschneidenden Verkürzung der Lebensarbeitszeit und der zunehmend diskontinuierlich verlaufenden Arbeitskarrieren unzureichend. In den Formen der Eigenarbeit, der unentgeltlichen, meist sozialen Dienstleistungen und der atypischen Beschäftigungs(förderungs)verhältnisse mit sozialpädagogischer Intention begegnen wir einer neuartigen Arbeitswirklichkeit, die auch zur Gestaltung herausfordert. Die Tatsache, dass es sich hierbei oft um eine traditionelle Domäne unbezahlter Frauenarbeit handelt, die nun vom Odium der Minderschätzung zu befreien ist, ebenso wie die Tätigkeit der ohne eigenes Verschulden eher erwerbslos als arbeitslos Gewordenen, trägt zur Brisanz des Themas bei. Schon wird die Auffassung vertreten, dass generell Lebensführung als Arbeit anzusehen sei (Voß 1993). Es bleibt also die Herausforderung, seitens der Arbeitswissenschaft einen Arbeitsbegriff zu vertreten, der bisherige Forschungen und Ergebnisse integriert, aber auch offen für die erwähnten Strukturwandlungen ist, soweit sich diese wissenschaftlich erfassen lassen.

 

Kritische Überprüfung des Selbstverständnisses

Damit stellt sich die Frage nach dem einer modernen Arbeitsforschung angemessenen Wissenschaftsbegriff. Sicherlich gibt es weiterhin Mindestanforderungen: Darlegung eines widerspruchsfreien begrifflichen Bezugsrahmens, Nachprüfbarkeit des Forschungsprozesses, diskussionsfähige Präsentation der Ergebnisse und ihrer Interpretation, Offenlegung von Bewertungsprämissen. Aber die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat darüber hinaus ganz erhebliche Erweiterungen und auch Aufweichungen des Wissenschaftsverständnisses gebracht bis hin zur Formel von Feyerabend: Anything goes. Auch hier stellt sich die Frage, wie es denn mit den arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer Sicherung steht, insbesondere hinsichtlich der Gültigkeit, Verlässlichkeit und Reichweite im Sinne der Übertragbarkeit.

Betrachten wir aus dieser Perspektive die von Luczak, Volpert, Raeithel, Schwier und ihren Mitarbeitern aufgrund jahrelanger Expertendiskussionen erstellte Kerndefinition der Arbeitswissenschaft, so bietet sie sicherlich einen brauchbaren Rahmen für eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung. Die Bestimmung der Arbeitswissenschaft als "die Systematik der Analyse, Ordnung und Gestaltung der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen von Arbeitsprozessen" (1987, 59) legt den Arbeitsbegriff ebenso wenig näher fest wie die anzuwendenden Methoden. Das Gleiche gilt für die Zielsetzung: In produktiven und effizienten Arbeitsprozessen sollen technische, medizinische, soziale und personbezogene Standards erfüllt werden, und zwar aus der Sicht der arbeitenden Menschen. Hier wird der wegweisende Ertrag der Humanisierungsdiskussion deutlich sichtbar.

Allerdings wirft der hohe Unbestimmtheitsgrad der Kerndefinition die entscheidende Frage nach dem Inhalt dieses eher formalen Rahmens auf. Produktivität und Effizienz sind komplexe Normgrössen, die sehr unterschiedlich festgelegt werden können, z.B. hinsichtlich der Ebene und des Bereichs der einzelnen oder womöglich systemisch oder netzwerkartig gebündelten Arbeitsverrichtungen. Außerdem bleibt bei der Ausrichtung der Forschung auf derartig charakterisierte Prozesse deren Steuerung durch wirtschaftliche Ertragskriterien unberücksichtigt, also gerade der Faktor, der Strukturwandlungen der Arbeitswelt wesentlich mitbedingt. Es gibt auch interessante Grenzfälle: Wie steht es z.B. mit Arbeitsprozessen, die im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen organisiert werden und weniger eine technisch als eine sozial definierte Produktivität, z.B. durch Vermeidung von Qualifizierungsverlusten und Aufbau von Handlungskompetenz fördern sollen oder die ganz allgemein der sozialpsycholgischen und sozialpädagogischen Betreuung dienen?

In ähnlicher Weise wird arbeitswissenschaftliche Forschung erst richtig spannend, wenn die in der Kerndefinition genannten Standards näher zu bestimmen sind. Hier handelt es sich ja nur selten um feststehende Richtgrössen im Rahmen bestimmter Toleranzen, die man relativ einfach situationsspezifisch anwenden kann. Ein grosser Teil derartiger Standards, z.B. Beeinträchtigungsfreiheit oder soziale Angemessenheit, unterliegt sozialkultureller Konditionierung und ist z.B. bei Männern und Frauen, Europäern und Asiaten unterschiedlich. Er ist auch Gegenstand sogenannter Mikropolitik, d.h. interessengeleiteter Verhandlungsprozesse. Ein typisches Beispiel ist z.B. der Tausch von Einkommensoptimierung gegen Zeitsouveränität.

Fazit dieser Betrachtung ist die Unmöglichkeit, zur Kerndefinition wie zu einem sicheren Hafen zurückzukehren. Sie gleicht eher einem Raster, der zur näheren Bestimmung des Forschungsfeldes dienen kann. Aber gerade die Art des Zustandekommens der Kerndefinition: auf dem Wege des Expertendiskurses, zeigt auch, wie sehr die Arbeitswissenschaft in ihrem Gehalt und in ihrer Orientierung auf einer Konsensbasis beruht. Gerade für die zukünftige Entwicklung wird es deshalb förderlich sein, auch diesen Aspekt der Wissenschaftsorganisation zu beachten, was angesichts der Vielzahl der Forschungsansätze Pflege der Interdisziplinarität mit einschließt.

Wie auf allen Gebieten menschlichen Handelns ist auch in der Arbeitswissenschaft der Weg in die Zukunft grundsätzlich unbestimmt. Zur Vorausschau ist es nur möglich, an gegenwärtig sich abzeichnende Schwerpunkte anzuknüpfen und Entwicklungstrends zu systematisieren. Dies soll nun in einem kurz gefassten Überblick über die Hauptdimensionen arbeitswissenschaftlicher Tätigkeit geschehen. Im einzelnen geht es hierbei um den Forschungs-, Vermittlungs- und Anwendungsbezug.


Die Organisation arbeitswissenschaftlicher Forschung hat gegenwärtig noch ihren Schwerpunkt in den Hochschulinstituten mit wichtigen Ergänzungen durch außeruniversitäre Forschungsanstalten und entsprechende Einrichtungen der Wirtschaftsorganisationen. Eine Verbindung von Forschung und Lehre ist an den Hochschulen weiterhin vorhanden. Es zeichnet sich aber immer mehr eine Situation ab, in der die Forschungsfinanzierung mit Ausnahme eines schrumpfenden Gemeinkostenanteils nicht mehr von den Hochschulträgern aufgebracht wird, so dass die Eigeninitiative zur Einwerbung von Forschungsmitteln Regelpraxis wird. Hierfür sind die verschiedenen Zweige der Arbeitswissenschaft unterschiedlich geeignet und vorbereitet. Übereinstimmung besteht aber sicherlich, dass der Trend zur Projektförderung und Auftragsforschung immer mehr auch Forschungsrichtung und -inhalt bestimmt, so dass die Grundlagenforschung eher auf die Zusammenstellung von Lernmaterialien und ihre kritische Diskussion beschränkt wird.

Das Problem in dieser Situation besteht nun darin, dass arbeitswissenschaftliche Forschung nicht nur verstärkt dem ohnehin sichtbaren Trend zur Spezialisierung unterliegt, sondern dass diese Spezialisierung zunehmend fremdbestimmt wird, und zwar durch die Vermarktungschancen des zu erwartenden Wissenzuwachses. Wenn man einmal von innovatorischen Außenseitern absieht, die es immer geben wird, können sich in absehbarer Zeit nur noch ganz wenige Zentren arbeitswissenschaftlicher Forschung halten, in denen das Spektrum dieser Wissenschaft hinreichend umfassend präsent ist, um eine Integration der Ergebnisse vor Ort zu leisten und die Partikularität der Einzelprojekte auszugleichen. Allerdings bieten die neuen Kommunikationsmöglichkeiten z.B. über das Internet Chancen, das offensichtliche Gefälle der Forschungsstandorte auszugleichen, etwa durch die Schaffung virtueller Arbeitsteams und Diskussionskreise. In der Einführung derartiger arbeitswissenschaftlicher Forschungsnetzwerke liegt eine reale Möglichkeit, ein Gegengewicht gegen Autonomieverlust als Folge der Anbindung an forschungsferne Auftraggeber zu schaffen. Voraussetzung ist allerdings der feste Wille, tatsächlich Arbeitswissenschaft zu treiben und nicht nur Wissensverwertung organisatorisch in Wissensmonopolen zu optimieren.

Betrachten wir die Organisation der Vermittlung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden, so fällt zunächst ins Gewicht, dass es den Beruf des Arbeitswsissenschaftlers in institutionalisierter Form nicht gibt. Abgesehen von wenigen Spezialisten müssen arbeitswissenschaftlich ausgebildete Fachkräfte ihr Wissen als Zusatzqualifikation in eine Berufswirklichkeit einbringen, die sie in erster Linie als  Ingenieure, Ärzte, Psychologen, Betriebswirte oder als organisationsspezifische Funktionsträger, z.B. als Personal- oder Ausbildungsleiter, als Referenten oder als Sachbearbeiter, z.B. für den Unfallschutz, definiert. Dementsprechend wird arbeitswissenschaftlich relevantes Wissen in unterschiedlichster Weise durch eine Vielzahl von Trägern auf sehr verschiedenartigen Niveaus vermittelt. Dies kommt zweifellos dem Erfordernis einer breiten Angebotspalette entgegen. Dadurch wird aber auch die Professionalität im Sinne eines verfügbaren, standardisierten arbeitswissenschaftlichen Kernwissens erschwert. Aus dieser Sicht war die Herausgabe des Handbuchs Arbeitswissenschaft (1997) eine notwendige Pionierleistung, die in praxisnahen Kompendien und Lexika Ergänzungen gefunden hat.

Ebenso wichtig wäre aber auch eine systematische Abstimmung von Aus-, Fort- und Weiterbildungsaktivitäten und ihre anforderungsorientierte Ergänzung. Es kann und soll nicht angestrebt werden, die gegenwärtige Aufsplitterung der Lernorte und Lerninhalte rückgängig zu machen. Denn der Adressatenkreis streut ausserordentlich breit, und zwar aufgrund sehr unterschiedlicher  Anwendungsbereiche. Aber in den Nachbarwissenschaften ist trotz ähnlicher Ausgangslage doch eine gewisse Standardisierung der Wissensvermittlung gelungen, wie z.B. bei Schaffung des Masters of Business Administration. Als Fazit bleibt jedenfalls die Zukunftsaufgabe, arbeitswissenschaftliches Wissen so zu vermitteln, dass diese Wissenschaft nicht ihre Identität verliert, sondern gleichsam Markenzeichen und Gütesiegel schafft, die eine professionelle Anwendung des vermittelten Wissens erleichtern. 

Wenn auch diese Anwendung in der Regel organisationsintern erfolgt, so haben doch die Hochschulvertreter der Arbeitswissenschaft einen nicht geringen Einfluss hierauf. Im Vordergrund stehen sicherlich die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften. Eine wichtige Rolle spielen aber auch Forschungsprojekte mit dem Ziel der Beratung und Problemlösung. Auch die Mitwirkung an Richtlinien, Normsetzungen und Gutachten jeglicher Art ist in diesem Zusammenhang zu beachten. In den Sozialwissenschaften hat praktische Erfahrung gezeigt, dass hierbei Professionalität nicht selbstverständlich ist. Die Bestrebungen um "codes of behaviour" sind nicht ganz erfolglose Versuche, die Träger anwendungsfähigen Wissens auf die Einhaltung von berufsethischen Standards zu verpflichten. In diesem Rahmen kommt möglicherweise auch der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft eine wichtige Rolle zu, zumal ihre Mitglieder ja durch nachweisbare Qualifikationsstandards gekennzeichnet sind.

Es kann also seitens der Arbeitswissenschaft einiges getan werden, um das Forschungsfeld zu erweitern und zu vertiefen, das verfügbare Wissen professionell zu vermitteln und seine Anwendung an überprüfbaren Standards auszurichten. Die Zukunft der Arbeitswissenschaft ist in diesem Sinne abhängig von ihrer erfolgreichen Selbstorganisation und erst in zweiter Linie Ergebnis außenstehender Förderung, z.B. durch den Staat. Alle Anzeichen verweisen darauf, dass sich nur diejenigen Wissensgebiete auch als identitätsfördernde Wissenschaften behaupten, die eine auf Professionalität gegründete Solidarität bei den in ihnen Tätigen hervorbringen und sich gleichzeitig um gesellschaftlich anerkannte Leistungsbeiträge bemühen.

Trotz Hervorhebung dieser zukunftsorientierten Eigenleistungen darf nicht übersehen werden, dass sich Arbeitswissenschaft in einem Spannungsfeld von Interessen realisiert, wie schon mehrmals hevorgehoben wurde. Damit bleibt sie auch Gegenstand von Eingriffen Dritter und sogar von Manipulationsversuchen. Hiergegen hilft nur die Herausbildung eines kritischen Bewusstseins, das beim eigenen Tun ansetzen muss. Wenn es die Arbeitswissenschaft mit den personalen Leistungen des arbeitenden Menschen zu tun hat, so darf nicht vergessen werden, dass hier auch ihre eigenen Vertreter inbegriffen sind. Auch sie müssen sich in einer Welt komplexer und wechselnder Anforderungen so bewähren, dass Leistung und Humanität nicht in Widerspruch zueinander geraten.

 

Literatur

 

Fürstenberg, F. (1975): Konzeption einer interdisziplinär organisiserten Arbeitswissenschaft. Göttingen.

Fürstenberg, F. (2000): Berufsgesellschaft in der Krise. Berlin

Giese, F. (1932): Philosophie der Arbeit. Handbuch der Arbeitswissenschaft Bd. X. Halle

Lipmann, O. (1926): Grundriß der Arbeitswissenschaft und Ergebnisse der arbeitswissenschaftlichen Statistik. Jena

Luczak, H./Volpert, W./Raeithel, A./Schwier, W.(1987): Arbeitswissenschaft. Kerndefinition-Gegenstandskatalog-Forschungsgebiete.

Luczak, H./Volpert, W., Hrsg. (1997): Handbuch der Arbeitswissenschaft. Stuttgart

Prigge, W.-U. (1975): Entwicklungstendenzen der Arbeitswissenschaft, in: Soziale Welt 26, 251-275

Raehlmann, I. (1988): Interdisziplinäre Arbeitswissenschaft in der Weimarer Republik. Opladen

Voß, G.G. (1993): Lebensführung als Arbeit. Stuttgart

 

Veröffentlicht in: Zeitschr. f. Arbeitswissenschaft 3/2001, 187-193.

Alle Texte durch Copyright geschützt.

Home
Soziologische Theorie
Wirtschaftssoziologie
Organisationssoziologie
Arbeits- und Berufssoziologie
Arbeitsbeziehungen
Arbeitswissenschaft
Kultursoziologie
Religionssoziologie
Japan-Forschung
Bibliographie


Impressum
e-mail
Home.htmlSoziologische_Theorie.htmlWirtschaftssoziologie.htmlOrganisationssoziologie.htmlArbeits-_und_Berufssoziologie.htmlArbeitsbeziehungen.htmlKultursoziologie.htmlReligionssoziologie.htmlJapan-Forschung.htmlBibliographie.htmlImpressum.htmlmailto:friedrich@fuerstenberg-soziologie.de?subject=email%20subjectHome.htmlshapeimage_3_link_0shapeimage_3_link_1shapeimage_3_link_2shapeimage_3_link_3shapeimage_3_link_4shapeimage_3_link_5shapeimage_3_link_6shapeimage_3_link_7shapeimage_3_link_8shapeimage_3_link_9shapeimage_3_link_10shapeimage_3_link_11shapeimage_3_link_12