Die Zukunft der Sozialreligion und ihrer Organisationsformen



Jede auf die Bundesrepublik bezogene religionssoziologische Analyse muß sich mit einem scheinbar widersprüchlichen Befund auseinandersetzen. Eingebettet in einen fortbestehenden institutionellen Rahmen oder aber doch in ständiger Auseinandersetzung mit seiner formprägenden Kraft wird “entinstitutionalisierte Religiosität” nicht nur als Randerscheinung wahrnehmbar. Gleichzeitig führen sozial-religiöse Solidaritätsforderungen und -erfahrungen zu neuen Organisationsformen. Die Amtskirchen bestehen mit ihrem Repräsentations- und Öffentlichkeitsanspruch fort. Sie mühen sich, individualisierte und privatisierte Religiosität ebenso zu integrieren wie Aktivgruppen, die auf gesellschaftliche Veränderung gerichtet sind. Sie tun dies insbesondere durch personale Dienstleistungen und soziale Gestaltungsimpulse.


Sozialreligion als Antwort auf säkulare Modernisierung

Man kann die gegenwärtige Situation als Ergebnis eines Modernisierungsprozesses interpretieren, der zu einer umfassenden Säkularisierung von Bewußtseins- und Organisationsstrukturen geführt hat. Dies hat jedoch den “religiösen Faktor” (G. Lenski) in seiner konfessionellen Ausprägung nicht verdrängt. Er hat lediglich die Sozialform seiner Wirksamkeit verändert.

In Deutschland haben sich die konfessionellen Territorialkirchen mit ihren institutionellen Amtsstrukturen behauptet. Teils in Partnerschaft mit dem Staat, teils in kämpferischer Auseinandersetzung mit ihm, konnten sie allmählich weitgehende materielle Bestandsgarantien aushandeln. Auf dieser Grundlage, die als Volkskirchenprinzip ihre ideologische Überformung erhielt, wurden insbesondere im katholischen Bereich nach dem Verbandsprinzip “betont konfessionell geprägte Sonderinstitutionen für alle Lebensbereiche” (Gabriel und Kaufmann 1988, 35) geschaffen. Es entstand eine spezifische Mischform von Volks- und Verbandskirche. Kirche repräsentierte als staatsgeschützte Institution die Glaubensmacht auch gegenüber dem nominellen Kirchenvolk und wirkte zugleich als Verband in wesentlichen gesellschaftlichen Belangen mit. Durch umfassende Milieubildung sollten geistliche Glaubensgemeinschaft und weltliche Solidargemeinschaft einander entsprechen. Im sozialen Katholizismus erreichte diese schon zur Jahrhundertwende ihre Idealform, während der als Staatskirche bis 1918 geschützte Protestantismus zunächst in organisatorischer Rückständigkeit verharrte (vgl. Herms 1989, 17).Johann Heinrich Wicherns konservative Initiative zur Gründung der Inneren Mission legte zwar das Fundament verbandlich organisierter kirchlicher Sozialhilfe, dies aber in deutlicher Distanz zu den Landeskirchen.

Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts hatte sich als Folge in der Bundesrepublik ansatzweise eine konfessionell differenzierte Sozialreligion christlicher Prägung mit folgenden Merkmalen etabliert:

  1. Aufwertung der Sozialfunktionen mit entsprechender Schwerpunktverlagerung von der Seelsorge zur Fürsorge, vom Pastoral zur Diakonie.


  1. Entinstitutionalisierung der individuellen Religiosität bei zunehmender Gemeinschaftsbindung öffentlicher Manifestationen,


  1. eine Politisierungstendenz durch eine immer stärker auf die Gestaltung sozialer Wirklichkeit gerichtete Verkündigung bis hin zur Einsegnung von Ackerschleppen einerseits und Solidaritätserklärungen für rebellierende Freiheitskämpfer in Entwicklungsländern andererseits.


Die Erfahrung der Kirchen, in einer säkularen Welt wirken zu müssen, führte zu einer allmählichen Einbettung ihrer Wertvorstellungen in säkulare Organisationsmuster nach dem jeweiligen Stand gesellschaftlicher Modernisierung. Dies entspricht durchaus einem christlichen Grundverständnis, das an die Stelle der Weltflucht das zu verantwortende Hineinwirken in die Welt setzt. Hierzu stellt Wolfgang Ockenfels für die katholische Kirche fest: “Wenn soziale, ökonomische und politische Strukturen heilsrelevant, also nicht gleichgültig für das Heilswirken sind, dann kann sich die Kirche nicht auf den privaten Bereich religiöser Innerlichkeit und Moralität zurückziehen” (1989, 6). Aus protestantischer Sicht ist nach Eilert Herms ist darauf zu achten, daß das evangelische Christentum zu einer Organisationsgestalt führt, durch die es als unverwechselbarer und zuverlässiger Faktor im gesellschaftlichen Leben erfahren werden und sich bewähren kann” (1989, 17).

In dem Maße, in dem sich die Kirchen mit den Existenzproblemen ihrer Mitglieder solidarisch erklären, müssen sie sich auch mit Mitteln und Zwecken der Daseinsbewältigung auf den verschiedenen Handlungsebenen auseinandersetzen. Im Schwanken zwischen fundamentalistischem Rückzug auf starre Prinzipien und sozial innovatorischem Christentum hat sich bisher immer wieder eine prinzipielle Offenheit gegenüber den Forderungen, aber auch Gefährdungen des Tages durchgesetzt. Die Bereitschaft, diesen schwierigen Weg zu gehen, ist wahrscheinlich Voraussetzung für eine glaubwürdige Nachfolge Christi in der Gegenwart. Eine religionssoziologische Analyse der Fortentwicklung dieser von den Konfessionen vertretenen “Sozialreligion” soll sich auf zwei wesentliche Manifestationen beschränken: den Verbandsaspekt, also im katholischen Bereich den sozialen Verbandskatholizismus, sowie den Bewegungsaspekt, also die katholische Sozialbewegung. Im Bereich des Protestantismus sind hierzu u. a. die Einrichtungen des Diakonischen Werks sowie gesellschaftpolitische Initiativen, z. B. im Rahmen der Kirchentage, zu nennen. Abschließend ist dann zu klären, inwieweit hierdurch angesichts fortdauernder gesellschaftlicher Strukturveränderungen eine konfessionelle Mobilisierung und Prägung des “religiösen Faktors” stattfindet, soweit sich dies mit den Mitteln der Sozialforschung feststellen läßt.

 

Sozialreligion und Verbandsprinzip

Ansatzpunkte für die soziale Wirkung religiöser Überzeugungen sind die personalen, aber auch sozial vermittelten Problemsituationen in konkreten Lebensbereichen. Entsprechend einer Auffassung, die sie als “Fügungen” und “Prüfungen” erscheinen läßt, war die traditionelle Organisationsform von Hilfestellungen im kirchlichen Bereich vor allem die Seelsorge, ergänzt durch personale Fürsorge. Angesichts der massenhaften Entstabilisierung von Lebenslagen im 19. Jahrhundert als Folge gesellschaftlicher Umwälzungen im Industrialisierungsprozeß wurde strukturwirksame Sozialpolitik erforderlich. Sie gliederte allmählich personale Diakonie in ein umfassendes Betreuungsnetz ein, unter der Voraussetzung, daß diese sich komplementär zu staatlichen Initiativen als “freier Wohlfahrtsverband” organisiert. Hierdurch wurde die allmähliche Herausbildung eines sozialen Verbandskatholizismus entscheidend gefördert, der seinerseits die Entstehung des modernen Sozialstaats nicht unerheblich beeinflußt hat.

Ähnlich wie die Geschichte der Inneren Mission zeigt auch die Geschichte des 1897 gegründeten Caritasverbands für das katholische Deutschland zeigt deutlich die lange Zeit zögernde Haltung der amtlich verfaßten Kirche, hierfür ein eigenständiges Organisationsmodell zu schaffen. Die “Proklamation” der Caritas als Diöszesanverband der Erzdiöszese Köln am 27.2.1916 durch den Erzbischof war nicht ein nachträgliches kirchenamtliches Placet sondern Zeichen, daß der Verband zur Erfüllung eines kirchenamtlichen Auftrags oberhirtlich errichtet worden ist (Baldus in Feldhoff und Dünner 1991, 15). Erst am 3.12.1927 erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister, wobei dieser bürgerlich-rechtliche Status “der kirchenrechtlichen consecration nur das Gewand, das für ihr Auftreten im weltlichen Rechsverkehr ... erforderlich ist” verleihen sollte (ebd. 16).

Entscheidende Änderungen brachten das Bundessozialhilfegesetz vom 30.6.1961 und das Jugendwohlfahrtsgesetz vom 11.8.1961. Caritas und Diakonisches Werk wurden gleichsam staatlich geförderte, und damit auch kontrollierte Organe einer nach dem Verbandsprinzip organisierten freien Wohlfahrtspflege. Die Mitwirkung der Kirchen wurde gesetzlich festgeschrieben, gleichzeitig aber auch dieser Wirkungsbereich staatlich geregelt. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Alltagspraxis sollen an einem Beispiel, der Diözesan-Arbeitsgemeinschaft der Heime und Ausbildungsstätten der katholischen Altenhilfe in der Erzdiöszese Köln, veranschaulicht werden:

“Das am 1. Januar 1975 in Kraft getretene Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige, dessen Ausführung gemäß Artikel 83 GG den Bundesländern obliegt und das nahezu alles im Heimwesen in staatliche Ordnung und Aufsichten zwängt (Heimaufsichtsverordnung, Erfordernisse der Heimverträge, Mitwirkung der Heimbewohner, Anzeige-, Buchführung- und Meldepflichten, Auskunft und Nachschau, Eignungsvoraussetzungen für Heimleiter und Heimpersonal u.a.), aber auch die Existenzsicherung der Häuser durch Pflegesätze, die mit den Kostenträgern ausgehandelt werden mußten, sind Gegenstände der Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen, natürlich auch hier, wie im Krankenhauswesen, das Eigene der katholischen Heime, wie es z.B. ein Referat “Hilfe zur Sinnerkenntnis und Bewältigung des Alters - ein Dienst der Kirche an der Gesellschaft” zeigt.” (Splett 1987, 150).

Grundlage dieser staatlichen Regelungsdichte ist zweifellos die Sicherung sozialstaatlicher Rechtsansprüche des Bürgers, die durch Einsatz von öffentlichen Finanzmitteln sichergestellt werden. Das Ausmaß kirchlicher Abhängigkeit wird aus dem Bericht des Generalvikars zur Finanzlage des Erzbistums Köln vor dem Priesterrat am 24.11.1993 deutlich: In diesem Jahr wurden hier 17,83% der Kirchensteuereinnahmen für soziale Dienste, davon 34,71% für Caritasverbände, aufgewendet. Deren Kosten betrugen jedoch ein Mehrfaches dieser Mittel, woran sich der Staat durch Zuschüsse zu Bauinvestitionen und die Finanzierung des laufenden Betriebs nach dem Selbstkostendeckungsprinzip beteiligte.

Diese Verbindung von verbandlicher Organisation und sozialstaatlicher Funktion hat nach Walter Fürst zu einem “brisanten Antagonismus” von Diakonie und Pastoral geführt. Die eigenen, professionalisierten Organisationsstrukturen der Diakonie gefährden aus theologischer Sicht einerseits die Identität von Christentum und Kirche, andererseits sind sie die Möglichkeitsbedingung gesellschaftlicher Relevanz des Glaubens (Fürst in Feldhoff und Dünner 1991, 55).Die Synthese von Professionalität und Konfessionalität, die auch das Diakonische Werk anstrebt, gleicht eher einem permanenten Spannungszustand, der auch zu kreativen Lösungen anregt.

Die Problematik einer zum Zwecke gesellschaftlicher Wirksamkeit verbandsmäßig organisierten Sozialreligion, eines „Christentums in der Öffentlichkeit“, liegt aber nicht allein in der möglichen Instrumentalisierung im Rahmen staatlich regulierter und weitgehend finanzierter Sozialprogramme. Sie entsteht auch durch die Bindung an Organisationsformen, die im Verlauf des gesellschaftlichen Strukturwandels obsolet werden können, so daß ursprüngliche Intention und tatsächliche Wirkung nicht mehr einander entsprechen. Auch dies kann am Beispiel caritativer Einrichtungen und Aktivitäten gezeigt werden. Max Webers warnender Hinweis auf das „eherne Gehäuse der Hörigkeit“ als Ergebnis der Bürokratisierung gilt auch für die Versuche, Mitmenschlichkeit gleichsam systematisch zu organisieren. Sie werden durch verstärkte Markt- und Wettbewerbsorientierung eher gefördert.

Die ursprüngliche christliche Liebestätigkeit in der Form personaler Fürsorge wurde, wie schon erwähnt, angesichts der Notwendigkeit einer umfassenden Stabilisierung in das staatliche System sozialer Sicherung integriert. Je weniger Einkommenssicherung und bürokratische Versorgungsmechanismen allein zur individuellen Wohlfahrtssicherung und -steigerung ausreichten, desto wichtiger wurden jenseits von Markt und Staat Förderungs- und Betreuungsmaßnahmen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Gerade die kirchlichen Einrichtungen boten sich für diese Lebenshilfe in personalen Bezügen an. Entscheidend für das gegenwärtige Problembewußtsein wurde aber die Erkenntnis, daß Hilfen zur Verbesserung von Lebenslagen letztlich durch Selbsthilfe, durch soziale Aktivierung abgelöst werden müssen, die die Betroffenen zur Wahrnehmung von Chancen motiviert. Soziale Aktivierung beinhaltet aber stets größere Selbstbestimmung und auch Selbstverantwortung. Hierin liegt eine grundlegende Herausforderung der herkömmlichen, zu Großorganisationen zusammengeschlossenen Diakonie. Traditionelle Aufgabenkreise der sozialen Fürsorge und der sozialen Sicherung sind zwar weiterhin notwendig, aber nicht hinreichend. Die Gründe hierfür liegen nicht allein in den sichtbaren Grenzen der Finanzierbarkeit, sondern auch in einem Wandel im säkularen Bewußtsein der “Weltchristen”, das sich auf Handlungsinitiativen in Lebensformen richtet, die Freiräume für Selbsterfahrung und Schutz gegen deren ideologische Vereinnahmung sowie Chancen für eine dialogische Kommunikation bieten. Dies alles ist in Hierarchie-geleiteten Versorgungs- und Betreuungsmodellen nicht gegeben. Die Diskussion über ein entwickungsorientiertes Sozialmanagement (Klimecki und Nokielki 1993), das den Leistungsprozeß durch Sinnvermittlung qualifiziert und eine lernfähige Organisation ermöglicht, ist im Gange. In diese Richtung weist auch das vom Diakonischen Werk vertretene Leitbild der partizipationsorientierten „Dienstgemeinschaft“.

Aus religionssoziologischer Sicht läßt sich die These aufstellen, daß in der kirchlich verfaßten Sozialreligion nicht nur die Seelsorge, sondern auch die Fürsorge als Diakonie mit einem bisher nicht bewältigten Grundproblem konfrontiert wird. Die Modernisierung hat nicht allein die Institutionen und Organisationsformen und damit die Handlungsfelder der Individuen erreicht, sondern auch deren Handlungsorientierungen und Handlungsstrategien. Dies ist zwar schon seit langem bekannt und wird nicht ganz zutreffend unter dem Schlagwort “Individualisierung” permanent diskutiert. Hinter diesem Etikett verbirgt sich aber die soziologisch ebenso wichtige Frage nach dem Handlungsspielraum, den modernen Menschen suchen und beanspruchen und den sie nach eigener Entscheidung sinnvoll gestalten wollen. “Der Anspruch der Kirchen, Normen aufzustellen, die über den engeren Bereich der religiösen Überzeugungen und religiösen Praxis hinausreichen und in das private und gesellschaftliche Leben eingreifen, wird von der Bevölkerung zunehmend zurückgewiesen” (Köcher 1988, 150 f.) Aus dieser Sicht werden Institutions- und Organisationsleistungen zu Angeboten, die angenommen bzw. akzeptiert werden müssen. Die volle Tragweite dieser Trends wird den Amtsträgern der Sozialreligion erst allmählich bewußt und dabei eher als Risiko für die Bestandserhaltung denn als Chance für die Revitalisierung erstarrter Strukturen interpretiert.

Bezogen auf die Diakonie als wichtigstes Fundament eines sozialen Verbandschristentums lassen sich folgende Problemfelder charakterisieren, deren organisatorische Gestaltung die Zukunft der kirchlich institutionalisierten Sozialreligion wesentlich prägen wird:

  1. Karitatives Handeln als Lebenshilfe kann sich nicht nur als rein fürsorgliche Betreuung zur Verminderung von Lebensrisiken und Lebensängste verstehen. Es geht auch um die Partnerschaft mit “mündigen Weltchristen”, die sozialpädagogische Orientierungs- und Anpassungshilfen brauchen, um in kritischer Distanz gegenüber der manipulierenden Umwelt einen gestaltenden Einfluß auf die Situation nehmen zu können. In diesem Sinne wäre auch das Leitbild der Anwaltschaft zu interpretieren, die , wo immer möglich, als Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen ist.


  1. Eine derartige Aktivierung ist nur möglich, wenn auch im institutionellen Rahmen die Chance zur Mitwirkung gegeben wird. Wer an seiner Gestaltung nicht teilhat, fühlt sich auch nicht für dessen Aufrechterhaltung mit verantwortlich. Das Ziel der Aktivierung und Mitwirkung wird jedoch nicht durch Proklamationen und Verwaltungsakte erreicht. Es ist gerade angesichts der offenkundigen Individualisierungstendenz zur Abwehr sozialer Isolierung eine solidarische Gemeinschaftserfahrung unumgänglich, die den Menschen handlungsfähig macht. Dies setzt voraus, daß er seine Situation erkennt, daß er einen Handlungsspielraum erhält, und daß ihm Orientierungsmaßnahmen und Verhaltensmuster angeboten werden. Fehlen diese Voraussetzungen, werden soziale Werke weiterhin für die Betroffenen administrativ geregelt mit den bekannten Entfremdungserscheinungen. Die Einrede, Selbständigkeit werde häufig nicht gewünscht, verkennt den im christlichen  Menschenbild begründeten Auftrag, als Person zu handeln.


  1. Je mehr der Mensch von institutionellen Hilfestellungen und ordnenden Eingriffen abhängig wird, desto schwieriger ist es für ihn,sich selbst nicht als Spielball übergeordneter Kräfte, sondern als eigenverantwortliche Person zu erfahren. Selbst-und fremdverschuldete Unmündigkeit sind ebensowenig eine tragfähige Basis für moderne Kirchenfrömmigkeit wie immanente Kontingenzerfahrungen aufgrund eines Institutionenversagens. Insofern ist es geradezu eine Tragik der kirchlichen Sozialverbände, daß es angesichts staatlicher Regulierung immer schwieriger wird, mit ihrer Hilfe persönliche Lebensräume zu schaffen, in denen realistische Einschätzungen der eigenen Situation auch zu deren Bewältigung, und zwar als Eigenleistung des Individuums führen.


Ein bürokratisch verwaltetes Subventionssystem wäre also in ein umfassenderes, auf Wahlfreiheit basierendes Förderungssystem zu verwandeln. In ihm müßten christliche Solidargemeinschaften im Sinne individuell wahrnehmbarer Mitmenschlichkeit eine Chance haben. Dies ist die vielleicht größte Herausforderung für eine Reform der Diakonie in institutionell verfaßten und gesicherten, aber zunehmend nach dem Verbandsprinzip handelnden Kirchen.


Sozialreligion und soziale Bewegung

 

In dem Maße, in dem sich im Verlauf der Modernisierung Religiosität immer weniger in traditionell institutionalisierte Verhaltensmuster, insbesondere Kirchlichkeit einbetten ließ, wurde nach Äquivalenten bzw. Stützen kirchlicher Bindung gesucht. Sie sollten zugleich eine gesellschaftliche Aktivierung bewirken, einmal, um die zunehmend segmentierte Lebenswelt zu erfassen, zum anderen, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Als Folge entstand die katholische Sozialbewegung auf der Grundlage einer sozialethischen Verkündigung. Zwar handelte es sich “bei den päpstlichen Enzykliken und bischöflichen Hirtenworten” ... “um praxisbezogene, rahmenhafte Orientierungen, welche die Richtung anzeigen, in der konkreten Lösungen zu suchen ist” (Ockenfels 1989, 8). Aber die Systematisierung dieser Orientierungsimpulse zur katholischen Soziallehre ist trotz der hierbei manifest werdenden Interpretationsunterschiede doch ein hinreichend geschlossenes Fundament für gesellschaftspolitische Initiativen in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehrmeinung. Im Protestantismus fehlt diese Voraussetzung, so daß gesellschaftspolitisches Handeln weniger an langfristige Strategien und stärker an aktuelle Entscheidungssituationen gekoppelt ist. Ein Beispiel sind die Kirchentage, die als „Einübungen in die Weltverantwortung des Christen“ interpretiert werden (Gohde 1997,3).

Der Rückgang institutioneller Prägekraft im traditionell kirchlichen Raum wurde auf diese Weise kompensiert durch institutionell kontrollierte und integrierte, auf die Gesellschaftsgestaltung gerichtete Aktivitäten. Als Folge entstanden Ausprägungen einer meist verbandlich organisierten Sozialbewegung mit dem Ziel gesellschaftlicher Strukturanpassungen und -veränderungen. Hierzu zählen der Volksverein für das katholische Deutschland und die katholische Aktion. Für die Gegenwart sind z.B. die Katholische Arbeitnehmerbewegung, das Kolpingwerk, die Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung und der Bund Katholischer Unternehmer, aber auch zahlreiche kirchliche Initiativgruppen zu nennen. Offensichtlich versteht sich auch der Caritas-Verband als „Bewegungsorganisation“ (Gabriel). Diese Vereinigungen tragen in dem Maße Bewegungscharakter, in dem sie innerweltlichen Sozialaktivismus zeigen. Sie sind aber auch in dem Maße Manifestationen einer Sozialreligion, in dem sie durch kirchlich bestimmte Deutungsschemata und Handlungsmaximen legitimiert werden.

Wo sich der institutionelle Einfluß nicht zur katholischen Soziallehre verfestigen konnte, entstanden Formen einer politischen Theologie, die wie in der sogenannten Theologie der Befreiung direkte Affinität zu gesellschaftspolitischen Bewegungen zeigten und von deren immanenter Dynamik erfaßt wurden. Dementsprechend trat dann die Einbindung in eine noch durch transzendentale Bezüge geformte Sozialreligion zurück. Deren organisationssoziologisches Dilemma zeigt sich sowohl darin, daß sie nicht als permanente Revolution stabilisierbar ist, daß sie aber auch nicht auf der Grundlage affirmativ auf die Gegenwart bezogener Lehrmeinungen in die Zukunft wirken kann.

Letzteres zeigt sich in dem deutlich wahrzunehmenden Widerspruch von Wert- und Sachkompetenz, auf den Wolfgang Ockenfels (a.a.O., 9) hingewiesen hat. Religiös fundierte Sozialbewegungen können sich durch Berufung auf die kirchliche Wertkompetenz stabilisieren. Sie benötigen zur erfolgreichen Problembewältigung aber auch situationsadäquate Sachkompetenz, die dem sozialen Wandel unterliegt. Das jeweilige Verhalten wird so zu einer Gratwanderung zwischen Prinzipientreue im Sinne der Wertkonformität und einem gegebenenfalls sogar opportunistischen Pragmatismus, der Wertstrukturen aus erfahrungswissenschaftlicher Perspektive relativiert. Auch religiös motiviertes Handeln in der Welt bleibt letztlich an die Bedingungen sozialer Wirksamkeit gebunden.

Die sozialreligiöse Prägung sozialer Bewegungen ist allerdings nicht erst ein Phänomen der Moderne, wie z.B. die Religionsgeschichte des Mittelalters zeigt. Neu ist hingegen die Konkurrenzsituation, in der die Kirchen hinsichtlich ihrer Legitimationsfunktion mit rein innerweltlich ausgerichteten Weltanschauungen stehen.

Diese Konkurrenzsituation wirkt sich besonders im Hinblick auf die mögliche Sozialbindung der sogenannten “vagabundierenden Religiosität” aus. Mit diesem Ausdruck habe ich 1982 den Versuch der Wertbindung ohne Orientierung an tradierten Verhaltensmustern gekennzeichnet, die z.B. als rudimentäre Privatreligion oder aber als Elemente neu entstehender “Diesseitsreligionen” nachweisbar sind. Konfessionelle Sozialbewegungen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind auch ein Versuch, vagabundierende Religiosität wieder zu integrieren. Hierbei konkurrieren sie mit innerweltlichen Deutungsschemata und Zielkonzepten, die in klassischer Form z.B. des Liberalismus und Sozialismus auch als Säkularisate fragmentierter christlicher Wertvorstellungen interpretierbar sind. Inzwischen haben sich aber gesellschaftsbezogene Zielvorstellungen vor einem global erfahrenen Problemhorizont immer stärker segmentiert und von übergreifenden Weltanschauungen gelöst. Beispiele sind die Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung. Diese neuen sozialen Bewegungen werden durch Aussonderung und Absolutsetzung von Partialaspekten wirksam und widerstehen durch diese einseitige Orientierung einer sozialreligiösen Integration. Denn jede Relativierung ihres Anliegens im Rahmen einer umfassenden Wertstruktur, z.B. eines christlich geformten Menschenbilds, mindert zunächst den zugleich totalen und eindimensionalen Wirkungsanspruch.

Hierauf beruht das vielleicht gegenwärtig größte Dilemma der Sozialreligion christlicher Prägung: einerseits die Vereinnahmung durch partielle politische Programme bzw. rasch sich ändernde “Forderungen des Tages” zu vermeiden, andererseits die soziale Dynamik der Zeit aufzufangen. Als ein Ausweg bietet sich die Anerkennung des “mündigen Weltchristen” an, der eigenverantwortlich Problemsituationen bestehen muß, trotzdem aber nicht ohne Rückbindung an die Glaubensgemeinde bleibt, die auch für unterschiedliche Meinungen und Interessen vertretende Teilnehmer offen bleibt. Dies würde eine organisatorische Verankerung von Toleranzmustern bedingen, die sich erst ansatzweise zeigen.

 

Grenzen der Organisierbarkeit des “religiösen Faktors”

Die Zukunft der Sozialreligion hängt zweifellos von der Gestaltbarkeit konfessioneller Verbände und Bewegungen ab. Sie betrifft einerseits deren Wert- und Zielbindung, andererseits deren immanente Problemlösungskompetenz. Insofern kommt jeder sozialreligiösen Ausformung zwar zentrale Bedeutung als Manifestation der innerweltlichen Wirksamkeit von Glaubenshaltungen zu. Der Kern der Glaubenswirklichkeit ist aber nicht in diesen Aktivitäten zu suchen, er entzieht sich auch der empirischen Erfassung. Wenn in der Gegenwart den sozialreligiösen Phänomenen besondere Bedeutsamkeit zukommt, so muß doch einschränkend darauf hingewiesen werden, daß hierin auch die gegenwärtige Hochschätzung öffentlicher Präsenz und Partizipation zum Ausdruck gelangt. Je mehr sich Insititutionenschwäche zeigt, desto wichtiger wird organisierte Mitgliederpartizipation und -repräsentanz. Hierfür bietet sich insbesondere das Feld sozialpolitischer Initiativen an. Ein Beispiel hierfür ist der Aufruf der katholischen Deutschen Bischofskonferenz vom 29.10.1998 an die Tarifparteien zur weiteren Lohnzurückhaltung. Diese Aktivierung des “religiösen Faktors” im Sinne erwünschter Verhaltensweisen ist aber begrenzt auf spezifische Anlässe und Problemsituationen. Christliche Verkündigung und Lebensführung hingegen zielt auf die menschliche Existenz schlechthin. Es ist also zu fragen, ob Sozialreligion in ihren wahrnehmbaren Organisationsformen diesen sinngebenden Hintergrund im Rahmen einer “kirchlichen Zweitstruktur” (vgl. Steinkamp 1987) oder „Sozialkirche“ (Ebertz) widerspiegelt, oder ob sie nur dessen Surrogat bzw. dessen letztlich doch säkularisierende Reduktion ist. Ein möglicher Indikator ist die Rückbindung sozialreligiöser Aktivitäten an den kirchlichen Verkündigungsauftrag. Das Maß hierfür ist aber nicht die Erfaßbarkeit durch zweckmäßige Organisation sondern die freiwillige Hinwendung durch Teilhabe.

Mit anderen Worten: Der “religiöse Faktor” ist nur begrenzt organisierbar. So wie die Aktivierung des Individuums im Modernisierungsprozeß noch nicht die eigenverantwortlich handelnde Person hervorgebracht hat, so wenig sind die Aktivierung des Kirchenvolks und seine organisatorische Betreuung für sich genommen schon Indiz eines lebendigen Glaubens.

Allerdings öffnen die Organisationsformen der Sozialreligion trotz ihrer immanenten Problematik doch den sonst verschlossenen Weg zu über-individuell konstitutierten, aber den einzelnen durchaus betreffenden Problemfeldern, in denen sich mitmenschliche Solidarität erweisen muß. Insofern ist eine Zukunft der Religion auch nicht ohne sozialreligiöse Aktivierung vorstellbar. Sozialgeschichte und soziale Gegenwart zeigen, daß hier auch der Ursprung wesentlicher sozialer Innovationen liegt, sowohl im Sinne der Entdeckung und Vermittlung von Problemlagen, als auch in der Form von Initiativen, die schließlich Vorbild für generelle Problemlösungen wurden. Gerade auf dem Feld der Sozial- und Gesellschaftspolitik begegnen die Konfessionen ihrem eigenen Säkularisat: Die „Sozialreligion“ ist, zumindest in Teilbereichen ihrer Wirksamkeit, auch auf dem Wege, sich in einem kirchlich unspezifischen sozialkulturellen Grundkonsens zu manifestieren. Dies mag als Erweiterung oder als Nivellierung verstanden werden.


Literatur

 

Feldhoff, Norbert (1993), Dünner Alfred (Hrsg.) (1991), Die verbandliche Caritas. Praktisch-theologische und kirchenrechtliche Aspekte. Freiburg i.B.: Lambertus.

Feldhoff, Norbert (1993), Zur Finanzlage des Erzbistums Köln. Bericht des Generalvikars vor dem Priesterrat am 24.11.1993. Köln: Presseamt des Erzbistums Köln.

Fürst, Walter (1991), Pastorale Diakonie-Diakonische Pastoral. Eine Zauberformel für die Bewährung der Kirche in der modernen Gesellschaft? in: Feldhoff und Dünner a.a.O., 52-80.

Fürstenberg, Friedrich (1982), Der Trend zur Sozialreligion, in: Gemper, B.B. (Hrsg.), Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung, Siegen: Vorländer, 271-284.

Fürstenberg, Friedrich (1983), Soziale Integrationsformen moderner Religiosität, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 3, 495-508.

Gabriel, Karl; Kaufmann, Franz-Xaver (1988), Der Katholizismus in den deutschsprachigen Ländern, in: Gegenwartskunde SH 5, 145-158.

Gabriel, Karl (1990), Funktion der verbandlichen Caritas im Postkatholizismus, in: Caritas 91, 575 ff.

Gohde, Jürgen (1997),Konfessionalität und Professionalität-Bericht über die Diakonische Konferenz 13.-15.10.1997 in Bremen. In: Diakonie-Korrespondenz 06/97

Herms, Eilert (1989), Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 49/89, 14-23.

Jahrbuch des Diakonischen Werks (1997). Stuttgart: Diakonisches Werk der EKD

Klimecki, Rüdiger und Nokielski, Hans (1993), Sozialmanagement-Innovationszwang und Entwicklungspotentiale von Wohlfahrtsverbänden,in: Deutscher Caritasverband (Hreg.), Caritas `93, 40-51.

Köcher, Renate (1988), Wandel des religiösen Bewußtseins in der Bundesrepublik Deutschland, in: Gegenwartskunde SH 5, 145-158.

Ockenfels, Wolfgang (1989), Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B  49/89, 3-13.

Splett, Bruno (1987), Zur Chronik des Diözesan-Caritasverbandes für das Erzbistum Köln. Köln: Diözesan-Caritasverband.

Stein, J. (1990), Die zweite soziale Dimension, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 34.

Steinkamp, H. (2987), Diakonie als “Kirchliche Zweitstruktur” - Thesen, in: DCV materialien 10, 34-39.

 

Veröff. in: Gabriel, Karl (Hrsg.) 2001: Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände. Berlin: Duncker & Humblot, 49-59.

 

Vgl. auch mein Buch: Die Zukunft der Sozialreligion. Konstanz: UVK  1999.

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